Geschichte

Wie Jules Verne ein neues Literaturgenre mit entwickelte

Von Beulah | 20. Dezember 2019

Jules Verne gehört zu den am meisten übersetzten Science Fiction-Autoren der Welt. Seine Werke inspirieren und begeistern sowohl alte als auch neue Generationen. Was viele Leser jedoch nicht wissen, ist, dass Klassiker wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Reise um die Erde in 80 Tagen“ Teil einer besonderen Errungenschaft waren: In Zusammenarbeit mit einem gewieften Verleger schuf Verne unwissentlich ein völlig neues literarisches Genre.

Voyages extraordinaires (Außergewöhnliche Reisen) ist der Titel einer Reihe von 54 aufwendig illustrierten Romanen des französischen Schriftstellers Jules Verne. „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Reise um die Erde in 80 Tagen“: Der Gelegenheitsleser wird diese beiden bekanntesten Bände der Abenteuerwerke aus Voyages extraordinaires wahrscheinlich erkennen. Der erste Roman erschien 1863 und der letzte im Jahr 1905. Zweck der Serie war es, die Geschichte des Universums zu präsentieren; die einzelnen Romane umfassten Themen wie Geologie, Biologie, Astronomie, Paläontologie, Ozeanographie und noch viele andere Gebiete, die für Verne faszinierend waren. Die Außergewöhnlichen Reisen waren nicht nur ein kreativer Kraftakt, sondern auch ein frühes Beispiel für einen „Lexikon-Roman“.

Heute haben wir sogar eine Definition dafür: ein Lexikon-Roman ist ein langes, detailreiches Werk der Belletristik und kennt sogar weitere Untergattungen. Vorläufer der Außergewöhnlichen Reisen waren die Göttliche Komödie und Don Quijote, ebenfalls große Werke. Aber erst als Verne mit dem Schreiben der Abenteuerserie begann, etablierten sich Form und Typologie des traditionellen Lexikon-Romans. Neben diesen frühen Werken ließ sich Verne von Alexander Dumas' Der Graf von Monte Cristo und seinen zeitgenössischen Kollegen (ebenfalls Lexikon-Roman-Schriftsteller) wie Herman Melville (Moby Dick) und Leo Tolstoi (Krieg und Frieden) inspirieren.

Ausgaben von den Außergewöhnlichen Reisen von Jules Verne

Pierre-Jules Hetzel: ein innovativer Verlagsmann

Der ursprüngliche Herausgeber der Außergewöhnlichen Reisen war Pierre-Jules Hetzel. Hetzel gründete 1864 Le Magasin d'éducation et de récréation (das Bildungs- und Unterhaltungsmagazin) mit dem Ziel, Kindern ein unterhaltsames, lehrreiches Fenster zur Welt zu bieten. Indem er einige der talentiertesten Illustratoren und Schriftsteller seiner Zeit zusammenbrachte, wurde Hetzels Magazin zu einem Kunstwerk. Leider reichte der ästhetische Reiz nicht aus, um den Verlagserfolg zu garantieren, und es dauerte bis 1875, bis die Zeitschrift eine Leserschaft von über 10.000 Menschen erreichte.

Als die Außergewöhnlichen Reisen dann veröffentlicht werden sollte, musste Hetzel zu innovativeren Maßnahmen greifen. Vielleicht ließ er sich von Charles Dickens inspirieren, welcher seine Romane vor der Veröffentlichung in seiner eigenen Zeitschrift veröffentlichte. In Dickens' Fall führte diese Vorankündigung dazu, ein neues Publikum zu erreichen. Tendenziell würden die Menschen kein Buch eines unbekannten Autors kaufen, eine Zeitschrift hingegen gerne. Hetzel verfolgte eine ähnliche Strategie, indem er drei verschiedene Versionen von den Voyages extraordinaires herausbrachte. Bevor er die gebundene Form herausbrachte, präsentierte er eine Zusammenfassung der Reihe Voyages extraordinaires in Le Magasin d'éducation et de récréation. Die zweiwöchentlichen Ausgaben wurden von Hetzels Mitarbeitern illustriert - darunter Léon Benett, George Roux und Édouard Riou (der später sechs weitere von Vernes Romanen illustrierte) - und diese Ausgaben wurden als éditions pré-originales bekannt.

Diese Form der Vorveröffentlichung war erfolgreich. Im Magasin d'éducation et de récréation hatte man die Menschen also auf den Geschmack gebracht und daraufhin folgte die Veröffentlichung aller Texte aus den Außergewöhnlichen Reisen (nach langer Überlegung im Buchformat 18°, Oktodez), bekannt als éditions originales. Diese éditions originales war recht erfolgreich und Hetzel fiel zudem auf, dass die Leser von den Illustrationen der éditions pré-originales ebenso begeistert waren wie von Vernes Geschichten. Hetzel witterte darin eine Chance und brachte eine dritte Ausgabe heraus: cartonnages dorés et colorés. Diese aufwendig illustrierten und vergoldeten Editionen wurden für die Festtage entworfen: sie belegten Hetzels Engagement für hochwertige Literatur und sein kaufmännisches Geschick. Doch wie sah die Zukunft für Vernes Lexikon-Romane aus?


Voyages extraordinaires: heute


Découverte de la terre, Voyages extraordinairesFrédéric Bisson

Es ist fraglich: Hetzel gab sich große Mühe, das richtige Buchformat für die Außergewöhnlichen Reisen zu finden. Haben sich diese Anstrengungen bezahlt gemacht und haben die Werke darum bis heute eine so hohe Relevanz? Die Problematik von Lexikon-Romanen ist grundsätzlich, dass er so schnell in Vergessenheit gerät wie die enthaltenen Informationen überholt sind. Verne wusste dieses Problem durch die Fiktionalisierung vieler seiner „wissenschaftlichen" Bezüge geschickt zu umgehen. Was die zeitgenössischen Bibliophilen aber vor allem ansprach, waren die schönen cartonnages dorés et colorés-Ausgaben. Mit den besonderen Illustrationen und luxuriösen Einbänden gaben sie dem Leser die Möglichkeit, sich in die Vergangenheit oder, abhängig vom Phantasiereichtum, in eine alternative Zukunft zu versetzen.

Hetzel hat die Außergewöhnlichen Reisen zwar zu einem begehrten Sammlerstück gemacht, ironischerweise führte seine innovative Veröffentlichung aber auch zu einer Reihe von Schwierigkeiten für Sammler. Der Experte für seltene Bücher Kurt Salchli erklärt: „Meistens wird das Erscheinungsdatum in den Büchern nicht erwähnt, so dass man nur durch den Einband oder den Katalog am Ende des Buches erkennen kann, ob es sich um eine Erstausgabe handelt. Zudem hat Hetzel verschiedene Ausgaben des gleichen Texts mit unterschiedlichen Einbänden hergestellt. Er hat ein Buch veröffentlicht, aber auch Bündel mit zwei oder drei Büchern mit einem neuen Einband zusammengebunden.“

„Das Wichtigste für einen Jules Verne-Sammler ist der Zustand des Buches“, sagt Kurt. „Der Wert einer Erstausgabe in einwandfreiem Zustand kann 2.000 € mehr wert sein als das gleiche Buch in einem mittleren oder schlechten Zustand. Auf Catawiki bieten wir regelmäßig Jules Verne-Bücher mit Einbänden in verschiedenen Zuständen an. Die meisten Sammler beginnen damit, Bücher von Jules Verne in einem mittleren Zustand zu sammeln und tauschen dies später gegen ein Buch in perfektem Zustand ein.“

Nach Vernes Tod fügte Hetzel den Abenteuerreihe noch acht neue Außergewöhnliche Reisen hinzu, von denen viele von Vernes Sohn und Verleger Michel Verne geschrieben wurden - dieser war damit beauftragt, die letzten Manuskripte seines Vaters posthum zu veröffentlichen. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn war zu Lebzeiten von Verne nicht immer einfach, und die starke Bearbeitung des Werkes seines Vaters durch Michel führte zu weiteren Kontroversen. Die neuen Voyages extraordinaires wurden damals dennoch ganz gut aufgenommen, im Gegensatz zu den eigenen Werken des Sohnes. Michels Texte und später auch Romane werden gerade im direkten Vergleich allgemein als eher minderwertig angesehen.

Wie auch immer man zu Michels Beitrag zur Serie steht, es besteht kein Zweifel darüber, dass Vernes bewegende Prosa und Hetzels innovatives Verlagswesen bis heute die Herzen von Generationen fesseln. Alle drei Ausgaben der Voyages extraordinaires sind wahre Sammlerstücke! Zu den jüngsten Beispielen des Lexikon-Romans gehören Werke wie Cryptonomicon, Unendlicher Spaß, Underworld und (wenn Sie spielerisch veranlagt sind) sogar Max Brooks World Operation Zombie: Wer länger lebt, ist später tot.


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